Der Verrat

Eine kritische Analyse der Rape Culture in anarchistischen Subkulturen

Words to Fire Press


Anmerkung der Übersetzer:innen: Dieser Text wurde im Jahr 2013 in englischer Sprache verfasst. Wir haben versucht, ihn originalgetreu ins Deutsche zu übersetzen, wobei wir besonders auf einige Begriffe geachtet haben, die die Originalautor:innen bewusst gewählt haben. Wenn sich Begriffe komische oder veraltet anfühlen oder wenn es „modernere“ „politisch korrektere“ Begriffe gibt, die stattdessen hätten verwendet werden können, bitten beachten, dass wir sie absichtlich verwendet haben, um möglichst nah am Originaltext zu bleiben.


Disclaimer

Wir haben Disclaimers verdammt satt. Wir haben kein Bock mehr uns für unsere Worte zu entschuldigen und rechtfertigen zu müssen, bevor wir sie überhaupt aussprechen. Wir sind verbittert darüber, wie spezialisiert Diskussionen über Vergewaltigung, sexuelle Übergriffe und Missbrauch geworden sind. Wir fühlen uns beleidigt und schämen uns dafür, dass wir ständig darauf hinweisen müssen, dass wir nicht im Namen aller Gewaltüberlebenden sprechen, als ob das überhaupt möglich wäre. Klar, wissen wir eine gut platzierte Warnung zu wertschätzen. Das ist einfach umsichtig. Aber wenn dogmatisch Versuche, sich gegenseitig nicht zu triggern, dazu dienen, Diskussionen über zwischenmenschliche Gewalt an den Rand zu drängen, das Thema in eine hübsche kleine Schachtel zu packen, die nur zu besonderen Anlässen herausgeholt werden darf, wenn eine Illusion von „Sicherheit“ garantiert werden kann, nun ja…dann fangen wir an, angepisst zu werden. Wenn wir nur aus der Position der Sicherheit heraus über unsere Unterdrückung sprechen, werden wir für immer schweigen. Wenn wir nicht lernen können, unsere Triggermomente im Kreis von Freund:innen und Genoss:innen zu verarbeiten, werden wir schlecht vorbereitet sein, um sie in ihrer Abwesenheit zu verarbeiten. Eine Atmosphäre der Nervosität durchdringt die Diskussion, und wir überlassen uns dem Rat von Fachleuten, teilweise aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Dabei sprechen wir doch nur über unsere eigenen Erfahrungen, ein Thema, für das wir alle Expert:innen sind. Wir sehen uns nach dem Tag, an dem wir uns nicht mehr unter einem Disclaimer oder einem anderen Banner präsentieren müssen.

Gleichzeitig erkennen wir aber auch an, dass wir noch nicht am Ziel sind. Diese Themen sind noch so brisant und die verfügbare Unterstützung ist noch so spärlich, dass unsere Worte das enorme Potenzial haben, Schaden anzurichten. In der Zwischenzeit müssen wir also vorsichtig sein, wenn wir sprechen, damit wir nicht ungewollt zu Verbündeten der Kräfte werden, die wir bekämpfen wollen. In diesem Sinne bieten wir einige Klarstellungen an, bevor wir beginnen…

Einige der Autor:innen dieses Beitrags sind Gewaltüberlebenden, andere reflektieren ihre eigene Rolle als Menschen, die in der Vergangenheit missbräuchlich waren, aber sie alle teilen das Engagement im Kampf gegen eine Rape Culture. Wenn wir „wir“ sagen, beziehen wir uns nicht auf „Gewaltüberlebende“ oder gar auf die Autor:innen, sondern auf alle, die dieser Aussage zustimmen, und, vielleicht noch weiter gefasst, auf alle, die sich als Teil dieses Kampfes verstehen. Sicherlich gibt es Gewaltüberlebende, deren Erfahrungen den hier vorgebrachten Argumenten zu widersprechen scheinen. Aber natürlich erheben die in diesem Text angeführten Beispiele keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit. Wir betrachten unsere eigenen Erfahrungen nicht als beispielhaft für die Erfahrungen aller Gewaltüberlebenden oder sogar der meisten Gewaltüberlebenden. Sie sind jedoch Beispiele dafür, wie sich die Rape Culture in unserem eigenen Leben materialisiert hat und wir dachten, dass es sich lohnt, darüber zu sprechen.

Mensch würde uns zu Recht dafür kritisieren, dass wir uns so stark auf das anarchistische Milieu konzentrieren, mit dem sich die meisten Gewaltüberlebenden natürlich nicht identifizieren können. Aber wir sahen wenig Sinn darin, zu versuchen, über unsere eigenen Erfahrungen hinauszugehen, in der Hoffnung, „relevanter“ zu werden. Wir hoffen auch, dass eine anarchistische Analyse der Macht und des Kampfes einen nützlichen Rahmen für die Dekonstruktion der Funktionsweise der Rape Culture bietet und vielleicht sogar denjenigen einen Einblick geben kann, die mit der anarchistischen Subkultur nicht vertraut sind. Wir glauben, dass die von uns beschriebenen Dynamiken auch in anderen Milieus ein Echo finden werden.

Die Personen, die mit Aufmerksamkeit lesen, wird auffallen, dass wir uns entschieden haben, durchgehend geschlechtsneutrale Sprache zu verwenden. Natürlich sind die meisten Gewaltüberlebende Frauen oder Menschen, die nicht der patriarchalen, binären Geschlechteridentität entsprechen (FLINTA*s), während die meisten Täter:innen cis-geschlechtliche Männer sind. Die Neutralität unserer Sprache verschleiert nicht nur den systemischen Charakter dieses Vorgangs, sondern auch die Art und Weise, in der zwischenmenschliche Gewalt stets ein Instrument der kolonialen Invasion, der imperialistischen Besatzung und der Aufrechterhaltung der weißen Vorherrschaft ist. Sie verschleiert die Art und Weise, in der die Organisierung gegen zwischenmenschliche Gewalt historisch von weißen Feminist:innen der Mittelklasse vereinnahmt wurde, so dass Women of Color, arme Frauen, queer- und trans* Personen weniger Zugang zu Unterstützungsressourcen haben. Es war nicht unsere Absicht, die Natur der zwischenmenschlichen Gewalt mit einer geschlechtsneutralen Sprache zu entpolitisieren (natürlich sind wir nicht neutral, wenn es um das Geschlecht geht). Aber nachdem wir das gesagt haben, wollten wir auch anerkennen, dass Menschen aller Identitäten, aus allen Gesellschaftsschichten, sowohl Gewaltüberlebende als auch Täter:innen sein können, oder sogar beides gleichzeitig. Wir wollten nicht, dass diejenigen, deren Erfahrungen nicht in die unterdrückenden Schubladen passen, sich hier noch mehr ausgegrenzt fühlen.

Schließlich bieten wir einige Definitionen an, nicht um vorzuschreiben, wie diese Wörter zu verwenden sind, sondern um zu verstehen, wie ihre Verwendung hier beabsichtigt war:

Rape Culture (Vergewaltigungskultur): Eine Kultur, die versucht, zwischenmenschliche Gewalt zu entschuldigen, zu dulden, zu normalisieren und zu fördern.

Zwischenmenschliche Gewalt: Ein Sammelbegriff für verschiedene Formen von Gewalt, die auf zwischenmenschlicher Ebene ausgeübt werden, aber ihre Wurzeln in weitreichenden Machtsystemen haben. Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, sexuelle Belästigung sowie sexueller, körperlicher und emotionaler Missbrauch in Beziehungen sind alles Beispiele für zwischenmenschliche Gewalt.

Gewaltüberlebende[1] (Person): Eine Person, die zwischenmenschliche Gewalt erlebt hat oder erlebt, wie sie von der gewaltüberlebenden Person selbst definiert wird.

Täter:in: Eine Person, die einer oder mehreren anderen Personen zwischenmenschliche Gewalt zugefügt hat, wie sie von der gewaltüberlebenden Person definiert werden.

Definitionsmacht (Handlungsmacht): Die theoretische Grundlage, auf der die meisten radikalen Unterstützungsmaßnahmen beruhen. Definitionsmacht ist das Konzept, dass eine gewaltüberlebende Person die Macht und Autonomie haben sollte, selbst zu entscheiden, wie sie mit ihrem eigenen Trauma umgeht, und dass die Rolle der Unterstützer:innen darin besteht, diese Autonomie zu stärken und zu fördern. Dies steht im Gegensatz zu anderen Ansätzen, die nicht davon ausgehen, dass die gewaltüberlebende Person ihre eigenen Bedürfnisse am besten kennt oder die Bedürfnisse jeder gewaltüberlebenden Person als wirklich einzigartig und unterschiedlich anerkennen, sondern stattdessen versuchen, dem Personen den „richtigen“ Weg zur Heilung aufzuzwingen.

(Vergewaltigungs)Apologet:in: Diejenigen, die durch ihr Handeln oder Nichthandeln versuchen, entweder die Macht des:der Täter:in und/oder die Entmachtung der gewaltüberlebenden Person aufrechtzuerhalten und damit die Rape Culture zu reproduzieren.

Rechnenschaftprozess: Ein Prozess, bei dem ein:e Täter:in versucht, gegenüber den Menschen, die er:sie verletzt hat, Rechenschaft abzulegen, und sich auf eine Selbstreflexion einlässt, mit dem letztendlichen Ziel, sein:ihr Verhalten langfristig zu verändern.


Es scheint, dass im gesamten anarchistischen Milieu, wohin mensch sich auch wendet, die Community von einer Rape Culture, sexuellen Übergriffen und Missbrauch verwüstet wird. Diese Zyklen sind weder neu noch einzigartig für Anarchist:innen. Auf den ersten Blick scheint es überraschend, dass unsere Communities mindestens genauso anfällig für zwischenmenschliche Gewalt sind wie alle anderen. Gehen wir nicht von einem Widerstand gegen Herrschaft aus, nicht ohne den es keine zwischenmenschliche Gewalt geben kann? Und doch ist das, was diese Communities zusammenhält, eine vermeintlich gemeinsame Politik oder politische Analyse, oft der schwächste Punkt in anarchistischen Antworten auf zwischenmenschliche Gewalt. Obwohl es sich um eine Community handelt, die explizit politisch ist, entpolitisieren Anarchist:innen die zwischenmenschliche Gewalt oft und lösen sie von ihren Wurzeln in der systemischen Macht. So wird zum Beispiel die Notwendigkeit guter Praktiken für den Konsens mit dem Glauben verwechselt, dass die Information der Menschen über den Konsens unsere Communities verändern wird, als ob Vergewaltigung das Ergebnis von Unwissenheit und Fehlinformation wäre und nicht von tief verankerten Machtstrukturen. Strategien, die Anarchist:innen angenommen haben, wie z.B. der Rechenschaftsprozess, scheitern meistens daran, die zwischenmenschliche Gewalt in unserer Mitte zu bekämpfen.

Das offensichtliche Scheitern des Rechenschaftsprozesses, unsere Communities zu verändern, wird gewöhnlich außerhalb des Kontextes dieses Scheiterns betrachtet, ohne die breiteren sozialen Strukturen zu untersuchen, die dazu beigetragen haben. Dieses Versäumnis ist eine Folge des Rechenschaftsprozesses und gleichzeitig eine Vorstufe dazu. Der Rechenschaftsprozesses everengt unseren Blick. Er konfrontiert uns mit expansiven Machtsystemen, während er uns gleichzeitig versichert, dass die Beschäftigung mit einzelnen Fällen diese dekonstruieren wird. Wir sprechen von Patriarchat, Kolonialismus, Heterosexismus, aber wir haben es nur mit einem:r Täter:in zu tun. In unseren lockeren Gesprächen sind wir uns einig, „Macht mit der Androhung von Gewalt einhergeht,“ doch unsere Versuche, Rechenschaft abzulegen, nehmen gewöhnlich die Form moralischer Überredung an und stützen sich auf liberal-bürgerliche Vorstellungen von Wahlmöglichkeiten. Als ob unsere Entscheidungen mehr wären als eine kalkulierte Reaktion auf die materiellen Bedingungen, in denen wir uns befinden. Natürlich entscheidet sich ein:e Täter:in dafür, Verantwortung zu übernehmen oder abzulehnen, aber was macht diese Entscheidung möglich? Welche Bedingungen haben sein:ihr Gefühl der Berechtigung gegenüber einer anderen Person gefördert? Es sind diese Bedingungen, die, vom Terrain des Kampfes aus betrachtet, als das erkannt werden müssen, was sie sind: Feindesland. Von dieser Erkenntnis aus versuchen wir, unseren Angriff zu starten.

Das Beharren darauf, dass zwischenmenschliche Gewalt von mehr als nur den eigentlichen Täter:innen ausgeübt wird, soll nicht dazu dienen, die Verantwortlichkeit von den Täter:innen abzulenken. Im Gegenteil, es ist eine Anerkennung der vielen Faktoren, die sie dazu berechtigen, sich der Verantwortung zu entziehen. So wie der Vorstadt-Yuppie ein umfangreiches und komplexes soziales System benötigt, um die negativen Folgen seines:ihres zerstörerischen Lebensstils zu verbergen, wird ein:e Täter:in, der:die sich der Verantwortung entzieht, häufig durch ein ähnliches soziales Netz unterstützt. Solche Netzwerke bestehen nicht nur aus denjenigen, die einen:eine Täter:in ausdrücklich verteidigen, sondern auch aus all jenen, die dafür sorgen, dass die Machtverhältnisse zu ihren Gunsten erhalten bleiben. Wie das in der Praxis aussieht, ist unterschiedlich. Gewaltüberlebenden und deren Kampf werden zum Schweigen gebracht oder Unterdrückt, ihre Aktionen werden entschärft und vereinnahmt[2] oder es wird eine Kombination dieser Methoden eingesetzt. Entscheidend wird immer sein, was die Rape Culture am effektivsten reproduziert.

Den Kampf zum Schweigen bringen

„Am Ende werden es nicht die Worte unserer Feinde sein, an die wir uns erinnern, sondern an das Schweigen unserer Freund:innen.“

Der Begriff „zum Schweigen bringen“ ist in unseren Communities populär geworden, aber nur mit einer begrenzten Definition. Eine gewaltüberlebende Person als Lügner:in zu bezeichnen, ihre sexuellen Erfahrungen, ihre Perversionen zu exponieren oder ihren Kleidungsstil zu erwähnen, um von die Schuld abzulenken, oder ihr anderweitig zu unterstellen, dass sie es so gewollt habe, sind alles Verhaltensweisen, die die meisten Anarchist:innen missbilligen würden, obwohl sie sich selten die Mühe machen, sie zu kritisieren. Diese Heuchelei deutet auf ein größeres Problem hin, das sich bei einer genaueren Betrachtung unserer Auffassung von „zum Schweigen bringen“ offenbart. Die oben genannten Beispiele treffen nur auf eine gewaltüberlebende Person zu, die ihre:n Täter:in angezeigt oder offen über ihre Erfahrungen gesprochen haben. Aber natürlich kommen viele Gewaltüberlebende nicht bis zu diesem Schritt.

Was bringt sie also zum Schweigen? Sind es die anderen Mitglieder ihrer Bezugsgruppe, die eine falsche Trennung zwischen dem Kampf gegen den Staat und dem Kampf gegen andere Machtsysteme ziehen (insbesondere die, von denen sie profitieren)? Sind es die Mitbewohner:innen, die niemals die beschissene Dynamik anerkennen, aus Angst, jemanden zu „triggern,“ als ob ein Angebot der Unterstützung triggernder wäre als die totale Isolation? Sind es die anderen Ausstellungsbesucher:innen, die den Kampf als kleinlich, zu persönlich oder als bloßes „Drama“ abtun, als ob eine gewaltüberlebende Person, die gegen ihre Unterdrückung kämpft, dramatisch wäre? Ist es der:die Kollektivkolleg:in, der:die bedauert, dass er:sie „nicht an der richtigen Stelle“ ist, um Unterstützung anzubieten, während er:sie immer noch an der richtigen Stelle ist, um regelmäßig mit einem:r Täter:in abzuhängen? Ist es die bekannte Person, die behauptet, nicht in der Lage zu sein, eine:n Täter:in zu konfrontieren, weil sie nicht einmal befreundet sind, oder ist es die bekannte Person, die dasselbe behauptet, weil sie doch befreundet ist? Sind es die Leute, die diese Veranstaltung organisiert haben, die sagen, dass sie nichts von der Situation wissen, während sie alles in ihrer Macht stehende tun, um sicherzustellen, dass sie es nie erfahren? Ist es der:die Bandkollege:in, der:die behauptet, er:sie könnte „beide Seiten sehen,“ oder der:die Seiten ganz und gar meidet, als ob es sich nicht um einen verdammten Krieg handelte? Wir haben sogar schon erlebt, dass die Vergewaltigung-Apologet:innen, die Autonomie der Gewaltüberlebenden auf den Kopf gestellt haben, indem sie behaupteten, sie hätten keine ausdrücklichen Anweisungen von einer überlebenden Person erhalten, so dass sie natürlich keine andere Wahl gehabt hätten, als eine völlig unkritische Freundschaft mit der:die Angreifer:in zu pflegen! Vielleicht ist es nicht das Schweigen der Gewaltüberlebenden, sondern das ihrer Umgebung, das wirklich aufschlussreich ist. Da es niemanden gibt, der etwas anderes sagt, kann eine gewaltüberlebende Person nur davon ausgehen, dass sie genauso behandelt wird, wie alle anderen Gewaltüberlebenden vor ihr.

Wenn wir unsere Definition von „zum Schweigen bringen“ auf alles ausdehnen, was dazu beiträgt, das Schweigen aufrechtzuerhalten, dann definieren wir nicht nur ein paar grobe, unsensible Bemerkungen. Stattdessen haben wir die Gesamtheit unserer Kultur miteinbezogen.

Was ist also mit der Rechenschaft? Missbrauch, Übergriffe, das völlige Fehlen von Verantwortlichkeit. Alles das ist in der Welt, wie wir sie kennen, Gang und Gäbe. Aber die Normalität wird eher durch die Selbstgefälligkeit der Massen aufrechterhalten als durch die Brutalität ihrer Herren. Die Gewalt bildet zwar die Grundlage, auf der sich die Rape Culture reproduziert, birgt aber auch gewisse Risiken: dass die gemeinsame Erfahrung Solidarität schafft, dass die Konfliktlinien klarer gezogen werden, dass die Menschen zurückschlagen. Der Prozess der Normalisierung versucht, diese Risiken zu untergraben, indem er die Gewalt unsichtbar macht. Die offensichtlichen Apologet:innen, die Idioten die „Schlampe“ sagen, als sei das etwas Schlimmes und die den:die Täter:in öffentlich für das Opfer halten, tragen nicht annähernd so viel zur Normalisierung bei, wie ihre subtileren Kompliz:innen, die völlig schweigen. Diese raffinierteren verteidigenden Personen teilen den Raum mit den Täter:innen; sie marschieren mit ihnen auf Demos und tanzen mit ihnen auf Partys, ohne jemals auch nur ein einziges Wort über zwischenmenschliche Gewalt zu verlieren. Wenn sie gezwungen werden, über das Thema zu sprechen, seufzen sie und sagen: „Es ist kompliziert.“ Sie behaupten vielleicht sogar, sich vor der Gewalt zu ekeln, aber meistens sind sie traurig, dass du die Veranstaltung stören musstest, um sie damit zu konfrontieren. Sie beklagen: „Wenn ich das nur gewusst hätte!“ während sie den Kopf zielstrebig in den Sand stecken.

Entfesselung der Repression

Diese Verschwörung des Schweigens zielt nicht nur darauf ab, den Kampf einer gewaltüberlebende Person zu beenden, bevor er überhaupt begonnen hat, sondern sie liefert auch den Hintergrund für das, was mit den wenigen Gewaltüberlebenden geschehen wird, die sich weigern, sich zum Schweigen bringen zu lassen. Wenn eine gewaltüberlebende Person in einem solchen Klima offen über ihre Erfahrungen spricht, kann das nur als ein Akt des Widerstands verstanden werden, und wie bei allen Akten des Widerstands ist Repression ein wahrscheinliches Ergebnis. Diese Repression ist differenzierter als die Knüppel von Polizist:innen oder die Gewehre von Soldat:innen, obwohl auch diese gegen gewaltüberlebenden Personen eingesetzt wurden. Die repressiven Kräfte sind eher psychisch und emotional verheerend. Die Akteur:innen dieser Repression sind uns nicht durch Uniformen oder Abzeichen bekannt, sondern als unsere vermeintlichen Genoss:innen und ehemaligen Freund:innen. Viele von uns sind daran gewöhnt, nur die Polizei in dieser repressiven Rolle zu sehen,[3] und natürlich hat auch sie ihren Anteil an der Reproduktion der Rape Culture. Aber in unseren eigenen radikalen Communities scheint die Rolle des Staates bei dieser Reproduktion heruntergespielt zu werden. Schließlich macht es wenig Sinn, dass der Staat die Ressourcen aufwendet, wenn so viele selbsternannte Anarchist:innen bereit sind, die Arbeit umsonst zu machen.

Wer an der Brutalität dieses internen Repressionsapparates zweifelt, ist noch nie selbst Betroffene:r eines solchen Angriffs gewesen. Die „Community,“ an die mensch sich so oft in der Erwartung von Unterstützung wendet, wird häufiger gegen die gewaltüberlebenden Personen im Namen der Täter:innen in einem überwältigenden Gegenangriff mobilisiert. Es ist schwierig, angemessen zu veranschaulichen, was so viele Gewaltüberlebenden durch die Hand ihrer vermeintlichen anarchistischen Genoss:innen ertragen mussten. Es als Verleumdungskampagne zu bezeichnen, wird der Sache kaum gerecht. Natürlich wird mensch mit allgemeinen Worten nie alle komplexen Erfahrungen einer Person vollständig erfassen können, aber es gibt viele Muster, die wir im anarchistischen Milieu erkennen können, die die allgemein Muster der Mehrheitsgesellschaft getreu wiedergeben.

Ein eklatantes Beispiel ist der Rufmord an der gewaltüberlebenden Person. Kein Aspekt ihres Lebens wird von der Untersuchung verschont, auf der Suche nach jedem Detail, das gegen sie verwendet werden kann. Diese Details, ob echt oder notfalls erfunden, werden oft dazu verwendet, die Gewalterfahrungen der gewaltüberlebenden Person zu entwerten und den:die Täter:in aufzuwerten. Nur wenige werden so ungeschickt sein, eine gewaltüberlebenden Person unverhohlen der Lüge zu bezichtigen, obwohl es mehr selbsternannte Anarchist:innen gibt, die dazu bereit sind, als wir zugeben wollen. Stattdessen werden die meisten eine beliebige Anzahl von leichten Variationen verwenden, um das Gleiche zu sagen. Vielleicht hat eine gewaltüberlebende Person keinen Hinweis auf Missbrauch gegeben, als sie ihn ertrug. Vielleicht hat sie bestimmten sexuellen Handlungen zugestimmt, aber nicht allen. Vielleicht hatte sie das Bedürfnis, bestimmte Erlebnisse preiszugeben und andere zu verschweigen. Vielleicht brauchte sie Zeit, um ihr Trauma zu verarbeiten, und gab es erst nach und nach Preis. Vielleicht hat sie ihre eigenen Probleme mit Macht oder Grenzen. Es ließe sich noch weiter fortsetzen, aber wichtig sind natürlich nicht die Details selbst, sondern die Art und Weise, wie sie verdreht, aus dem Zusammenhang gerissen oder dazu benutzt werden können, die Glaubwürdigkeit der gewaltüberlebenden Person zu untergraben. Vergangene Geschichten, Abhängigkeiten, Bewältigungsmechanismen, Schulden, Unsicherheiten, ja sogar die politische Identität einer gewaltüberlebenden Person, alles kann verwendet werden.[4] Wenn diese Strategie erfolgreich ist, werden die gewaltüberlebende Person zu Schurk:innen gemacht und ihre Angreifer:in als Opfer von Lügen und Manipulation dargestellt. Aber selbst wenn das offensichtliche Ziel scheitert, eine gewaltüberlebende Person in den Augen der Community zu diskreditieren, kann der Prozess selbst immer noch wirksam sein, um die gewaltüberlebende Person aus dieser Community zu vertreiben. Das Wissen, dass das bloße Betreten eines anarchistischen Raums bedeutet, dass fast jeder dort sein:ihr persönliches Leben ausführlich diskutiert hat, schafft eine enorme Barriere, unabhängig von den Schlussfolgerungen, zu denen die Leute gekommen sein mögen. Gewaltüberlebende fühlen sich vielleicht gezwungen, dieser Dynamik zuvorzukommen, indem sie sich mit ihren Kritiker:innen auseinandersetzen. Dies führt häufig dazu, dass „Beweise“ oder Einzelheiten über Übergriffe oder Missbrauch verlangt werden. Dieser retraumatisierende Aspekt ist ein weiterer Angriff auf die gewaltüberlebenden Personen und nährt den Konflikt oft eher, als dass er ihn entschärft.

Wenn die Spannungen zunehmen, beginnen sie auf neue Bereiche überzugreifen. Zuvor unbeteiligte Parteien, die die gewaltüberlebende Person oder den:die Täter:in vielleicht nicht einmal kennen, werden in den zunehmenden Tumult hineingezogen, und die Organisierung wird gestört. Natürlich ist an diesem Punkt die Normalisierung durchbrochen, und der Repressionsapparat hat nichts mehr zu verlieren, wenn er sich nicht zurückhält. Anarchist:innen, die sonst eine liberale Politik verachten würden, wenden sich nun ihrer Ideologie zu, um sie zu stärken. „Diese Spaltungen tun uns weh!“ rufen sie. Natürlich werden solche Spaltungen nie den Täter:innen angelastet, sondern den Gewaltüberlebenden, weil sie darauf bestehen, dass das Trauma, das sie erlebt haben, nicht unbeantwortet bleiben darf. Sie werden beschuldigt, die Community auseinander zu reißen und letztlich „den Kampf“ zu untergraben. Die Bedeutung dieses letzten Punktes kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die früheren Ablehnungen der breiteren Community, die andeuteten, dass „der Kampf“ lediglich die Gewaltüberlebenden und ihre Bedürfnisse ausschließt, werden nun klargestellt, um zu zeigen, dass diese Kämpfe in Wirklichkeit diametral entgegengesetzt sind. Um es ganz klar zu sagen: Anarchist:innen, die meinen, dass ihr Kampf durch eine gewaltüberlebende Person untergraben wird, führen in Wirklichkeit einen Kampf gegen Gewaltüberlebenden. Sie sind aktive Apologet:innen der Rape Culture. Sie vergleichen den Kampf der gewaltüberlebenden Person oft mit einer „Hexenjagd,“ obwohl sie selbst mehr mit den Henkern gemeinsam haben als mit denen, die auf dem Scheiterhaufen brennen.

Wie bereits erwähnt, wird die Verdrängung überflüssig, wenn Gewaltüberlebenden zum Schweigen gebracht werden können und ihre Erfahrungen in einer Rape Culture normalisiert werden. Daraus folgt, dass das Fehlen einer solchen offenen Repression in Verbindung mit mangelnder Unterstützung für Gewaltüberlebenden und mangelnder Verantwortlichkeit für die Täter:innen nicht auf eine fehlende Rape Culture hindeutet, sondern das Gegenteil zeigt. Es offenbart eine Rape Culture, die völlig verwurzelt ist, wie eine Besatzung, die sich so festgesetzt hat, dass Panzer und Soldat:innen überflüssig werden.

Wenn du sie nicht schlagen kannst

Wie bereits angedeutet, können diese repressiven Maßnahmen die Reihen der gemäßigteren Vergewaltigungsapologet:innen spalten und die gemeinsame Front gegen die Gewaltüberlebenden unterminieren. Gleichzeitig werden repressive Maßnahmen zumindest dann als notwendig erachtet, wenn der übliche Prozess der Normalisierung unterbrochen wird. Dies weist auf einen der größten Widersprüche innerhalb der Rape Culture hin: dass die Gewalt, auf die sie sich stützt, um sich zu reproduzieren, auch ihre wahre Natur für alle sichtbar macht. Aufgelöst wird dieser Widerspruch durch entschärfende und vereinnahmende Kräfte innerhalb radikaler Communities, die versuchen, die Unterstützung für Gewaltüberlebende zu kooptieren und gegen sie zu lenken. Viele geben vor, eine gewaltüberlebende Person zu unterstützen, während sie in Wirklichkeit ihre Autonomie untergraben. Dies geschieht in der Regel dadurch, dass der mögliche Umfang der Reaktion einer gewaltüberlebenden Person eingeschränkt wird, um alles auszuschließen, was den sozialen Frieden weiter stören könnte. Diese falschen Unterstützer:innen arbeiten daran, das Bild einer unterstützenden Community aufrechtzuerhalten und verhindern dabei jede wirklich kritische Auseinandersetzung mit der Community. Ihre Werkzeuge sind die Sprache und der Organisationsrahmen, die von den Gewaltüberlebenden und ihren Unterstützer:innen entwickelt wurden, die sie sich zum Zweck der Entmachtung aneignen und verdrehen, um den Kampf der Gewaltüberlebenden an sich zu reißen.

Anfänglich war es notwendig, Worte zu finden und einen neuen Rahmen zu schaffen, um sie zu verwenden, da die Gewaltüberlebenden nicht einmal über ihre Erfahrungen sprechen konnten. Leider sind solche Wörter leicht zu entschärfen und vereinnahmen und wir können jetzt die unvermeidlichen Grenzen erkennen, wenn wir uns zu stark auf sie verlassen. So waren es Radikalen, die sich für die Verwendung des Wortes „Täter:in“ eingesetzt haben, um das Stigma härterer Worte zu umgehen. Der einst weit verbreitete Rahmen der „Restorative Justice“ betonte die Fähigkeit einer Person, sich zu ändern. „Vergewaltiger:in“ oder „Misbraucher:in“ unterstrichen diese Werte kaum, und viele waren der Meinung, dass die Vergewaltiger:innen und Täter:innen in diesen Rollen gefangen blieben, ebenso wie die Bezeichnung von Gewaltüberlebenden als „Opfer“ sie möglicherweise in einem Moment der Unterwerfung festhielt, anstatt ihre Stärke und ihr Durchhaltevermögen zu unterstreichen. Natürlich sind wir jetzt mit einer neuen Welle von Anti-Gewalt-Aktivist:innen konfrontiert, die die Stigmatisierung des Wortes „Täter:in“ beklagen und nun für den verwässerten Begriff „gewaltausübende Person“ eintreten. Vielleicht ist es an der Zeit zu erkennen, dass, wenn die Fähigkeit eines:einer Täters oder einer Täterin, sich zu ändern, nicht allgemein anerkannt wird, dies eher auf seine:ihre eigenen Handlungen zurückzuführen ist, als auf die Worte, die wir verwenden, um ihn:sie zu beschreiben. Das soll nicht heißen, dass wir unsere Worte nicht strategisch wählen oder sie nicht mit fester Absicht verwenden sollten, sondern nur, dass unsere scheinbare Besessenheit von der Sprache ernsthafte Nachteile hat. Im besten Fall führt sie dazu, dass wir in einer Endlosschleife gefangen sind, in der wir nach den richtigen Worten suchen, anstatt uns mit unseren bedeutsameren Unzulänglichkeiten zu befassen. Schlimmstenfalls bewahrt sie die Machtdynamik der Rape Culture, indem sie die Schuld den Gewaltüberlebenden und ihren Unterstützer:innen zuschreibt und nicht den Täter:innen und ihren Apologet:innen.

Diese bizarre Umkehrung, bei der die Weigerung des:der Täter:in, Rechenschaft abzulegen, zumindest teilweise als Ergebnis von Fehlern in der Reaktion der Gewaltüberlebenden angesehen wird, ist ein gängiges Muster, das von den entschärfende und vereinnahmende Kräften der Rape Culture aufgegriffen wird. In Zines und Broschüren werden Strategien des Rechenschaftsprozess zu verstehen ist, die vermeiden sollen, den:die Täter:in in die Defensive zu drängen, was vielleicht besser als Strategien zur Rechenschaftsprozess zu verstehen ist, die versuchen, der Defensivität des:der Täter:in entgegenzukommen. Das Einzige, was ein solcher Ansatz vermeidet, ist die Erkenntnis, dass eine Abwehrhaltung nicht etwas ist, das einer Person von anderen aufgezwungen wird, sondern eine reaktionäre Reaktion, die erkannt und verarbeitet werden muss, damit ein echter Rechenschaftsprozess möglich wird. Viele verwenden den Begriff „defensiv,“ ohne jemals zu fragen: „Wofür defensiv?“

Natürlich haben viele Gewaltüberlebenden, die die Abwehrhaltung und den dadurch aktivierten Repressionssapparat antizipieren, solche Strategien kurzfristig gut genutzt, um einen Dialog zu initiieren oder um Forderungen nach unmittelbarer Sicherheit zu stellen, ohne das Ziel zu verfolgen, einen:r Täter:in zu verändern. Wir haben kein Interesse daran, die Entscheidungen eine:n Gewaltüberlebenden in Frage zu stellen oder die Verbreitung potenziell nützlicher Strategien zu verhindern (denn wie nützlich ein bestimmter Ansatz ist, können natürlich nur die Gewaltüberlebenden selbst entscheiden). Unsere Sorge besteht darin, dass die Abwehrhaltung oder die damit verbundenen Strategien zu einem Instrument falscher Unterstützer:innen werden, um die Wahlmöglichkeiten von Gewaltüberlebenden einzuschränken oder die von ihnen missbilligten Entscheidungen zu kritisieren, nachdem eine gewaltüberlebende Person sie getroffen hat. Diskussionen darüber, wie mensch eine:n Täter:in zur Rede stellt, konzentrieren sich selten auf die Bedürfnisse des:der Gewaltüberlebenden. Die „Vermeidung von Abwehrhaltung“ bietet den Vorwand, die Diskussion wieder auf die Bedürfnisse des:der Täter:in zu lenken. Ist ein:e Täter:in erst einmal geouttet, wird ein ähnlicher Rahmen verwendet, um die Unterstützung für eine gewaltüberlebende Person zu untergraben. Die falschen Unterstützer:innen versichern uns unaufhörlich, dass sie nicht wütend darüber sind, dass ein:e Täter:in genannt wurde, sondern dass es nur um die Art und Weise geht, wie er:sie genannt wurde. Die Tatsache, dass eine gewaltüberlebende Person offen über ihre Erfahrungen spricht, wird anscheinend als gewalttätiger und kontroverser angesehen, als die Gewalt dieser Erfahrungen selbst, die im Vergleich dazu kaum eine Diskussion rechtfertigt. Wie die öffentliche Reaktion eines gewaltüberlebenden Person ihre Bedürfnisse widerspiegeln könnte, scheint den falschen Unterstützer:innen nicht in den Sinn zu kommen, da sie so sehr mit ihrem Bedürfnis beschäftigt sind, einen künstlichen sozialen Frieden zu bewahren. Auch hier zeigen sich wieder demokratischen Tendenzen, denn das Beharren der falschen Unterstützer:innen auf der Anprangerung des Widerstands der Gewaltüberlebenden, auf der Behauptung, dass sie die Rape Culture ebenfalls verachten, während sie gleichzeitig jeden Kampf dagegen herunterspielen, erinnert an Liberale, die behaupten, mit den Beschwerden der Demonstrant:innen übereinzustimmen und doch jede Aktion verurteilen, die sie ergreifen könnten, um sie anzugehen. Die Liberalen beschweren sich, dass Intensität und Heftigkeit den Kampf sabotieren, aber die Anarchist:innen wissen natürlich, dass das wahre Problem darin besteht, dass wir nicht weit genug gegangen sind.

Wie bereits erwähnt, ist dies alles Teil eines größeren Musters zur Aufrechterhaltung die Machtdynamik, auf die sich die Rape Culture stützt. Es gibt unzählige weitere Beispiele. Der Rechenschaftsprozess selbst kann ein zweischneidiges Schwert sein. Radikale Communities lösen den Rechenschaftsprozess oft von seinem Platz innerhalb des umfassenderen Rahmens der „Resotrative Justice“ und bieten ihn als einzige Antwort auf intime Gewalt an, während sie gleichzeitig alle weiteren Versuche vermeiden, der Gewalt vorzubeugen, bevor sie geschieht. Diese falsche Unterstützung stellt die Bedürfnisse der gewaltüberlebenden Personen hinter die Frage, wie mit dem:der Täter:in umzugehen ist, zurück, wodurch wiederum die Bedürfnisse des:der Täter:in in den Vordergrund gestellt werden und das Muster der Herrschaft aufrechterhalten wird. Das Wenige, was die gewaltüberlebende Person, an Unterstützung angeboten wird, entspricht oft der gleichen Dynamik. Eines der am häufigsten verwendeten Unterstützungsmodelle, nämlich Forderungen an den:die Täter:in zu stellen,[5]überlässt wiederum dem:der Täter:in alle Handlungsmöglichkeiten, insbesondere wenn es keinen Notfallplan für den Fall gibt, dass der:die Täter:in sich weigert. Gewaltüberlebende, die sich emotional auf solche Modelle als Weg zur Heilung einlassen, sind oft am Boden zerstört, wenn die Forderungen nichts bringen, oder schlimmer noch, wenn sie ein neues Sperrfeuer des:der Täter:in und der Repressionskräfte hervorrufen. Im anarchistischen Milieu, wo weithin anerkannt ist, dass Forderungen meist nutzlos sind, wenn sie nicht mit der Androhung von Gewalt einhergehen, ist es ziemlich aufschlussreich, dass solche Modelle vorherrschen.

Abgesehen von seiner Rolle im weiteren Kontext kann auch die interne Funktionsweise des Rechenschaftsprozesses selbst missbraucht und gegen eine gewaltüberlebende Person verwendet werden. Das Konzept der Definitionsmacht, das einst die theoretische Grundlage des Rechenschaftsprozesses bildete, wird häufig verworfen und der Prozess in eine zahnlose Form der Konfliktlösung verwandelt. Ohne eine klare Analyse der Machtdynamik, die am Werk ist, wird natürlich die Standardmacht des:der Täter:in aufrechterhalten. Das Ziel ist immer noch die Rehabilitierung des:der Täter:in und höchstwahrscheinlich seine:ihre weitere Teilnahme an der Community, aber die falschen Unterstützer:innen, die den Rechenschaftsprozess an sich gerissen haben, können dies nun auf Kosten der gewaltüberlebenden Person tun, indem sie egoistisch die „Rehabilitierung“ des:der Täter:in so definieren, wie es ihnen gerade passt. In den extremsten Fällen werden Rechenschaftsprozesse gegen den ausdrücklichen Willen der gewaltüberlebenden Person eingeleitet, um den:die Täter:in in den Augen anderer zu legitimieren Der Vorwand, es zu einer „Angelegenheit der Community“[6] zu machen, erlaubt es den falschen Unterstützer:innen nicht nur, der gewaltüberlebenden Personen die Kontrolle zu entziehen, sondern auch, Gewaltüberlebende, die sich weigern, an ihrer eigenen Entmachtung mitzuwirken, als Hindernis für den Rechenschaftsprozess darzustellen. Die peinlich häufige Farce falscher Unterstützer:innen, die einer gewaltüberlebenden Person mitteilen, dass der:die Täter:die in Wirklichkeit „an seinem:ihrem Scheiß gearbeitet“ hat, rührt von dieser oder einer ähnlichen Dynamik her.

In weniger extremen Fällen ist die Teilnahme der gewaltüberlebenden Person erlaubt, aber nur so lange, wie sie sich innerhalb der von den falschen Unterstützer:innen gesetzten Parameter bewegt. Repressalien gegen eine:n Täter:in, ob physisch oder anderweitig, sind völlig tabu. Selbst Fragen der unmittelbaren Sicherheit, wie das Teilen von Räumen mit einem:r Täter:in, unterliegen dem Ermessen der falschen Unterstützer:innen. Auch hier sehen wir, wie sich die radikale Sprache gegen Gewaltüberlebende wendet, da ihre Forderungen nach Raum in ihrer Community von falschen Unterstützer:innen verdreht und mit dem Gefängnissystem verglichen werden (weil sie die Rehabilitation nicht zum einzigen Ziel machen oder eine:n Täter:in „bestrafen“) oder offen als Versuch bezeichnet werden, den:die Täter:in „auszuschließen.“ Natürlich wird die Unaufrichtigkeit dieser Bedenken aufgedeckt, da sie den Vorwand liefern, die gewaltüberlebenden Person stattdessen aus der Community auszuschließen.

Die Rolle des:der Täter:in im Prozess des gekaperten Rechenschaftsprozesses[7] reproduziert ebenfalls seine Macht. In einigen Fällen dürfen sie Forderungen an die Gewaltüberlebenden stellen oder Kriterien für ihre eigene Teilnahme aufstellen. Die Täter:innen oder ihre Apologet:innen reagieren nur allzu häufig darauf, dass, sie defensiv ihre eigene Callouts machen. Wie bereits erwähnt, beschuldigen sie die gewaltüberlebenden Personen jedes erdenkliches Fehlverhalten oder erfinden selbst welche, wenn es keine tatsächlichen Vergehen gibt. Anstatt diese erbärmlichen Verleumdungsversuche als die manipulativen Übertretungen zu erkennen, die sie sind, schließen sich die falschen Unterstützer:innen in der Regel dem:der Täter:in an, indem sie absurde Forderungen nach einem „Rechenschaftsprozess“ von den gewaltüberlebenden Personen erheben.[8]Aus dieser neu gewonnenen Position der Rechtschaffenheit und mit der Komplizenschaft der falschen Unterstützer:innen kann der:die Täter:in den Charakter des Rechenschaftsprozesses selbst verändern. Was als Callout begann, wird eher zu einer Verhandlung, da die Kooperation des:der Täter:in davon abhängt, dass die gewaltüberlebende Person ihre Bedenken anspricht. Vielleicht sind einige dieser Bedenken sogar berechtigt, aber wichtig ist natürlich nicht ihre Berechtigung, sondern ihre Rolle bei der Untergrabung des Kampfes des:der Gewaltüberlebenden. Die gewaltüberlebende Person muss sich nun nicht nur die Rechenschaftsprozess des:der Täter:in verdienen, sondern auch die Unterstützung der Community, die er:sie erhält. Die Gewaltüberlebenden, die nicht willens oder in der Lage sind, alle Hürden zu überwinden, werden abgeschrieben. In einer letzten Perversion des Rechenschaftsprozesses wird die gewaltüberlebende Person für das Scheitern des Prozesses verantwortlich gemacht, weil er:sie nicht bereit war, die Dinge „aufzuarbeiten.“ An diesem Punkt ist der Rahmen der sogenannten „Restorative Justice“ so verzerrt, daß er nur noch die Machtdynamik einer Rape Culture wiederherstellt, die ansonsten durch den Kampf der gewaltüberlebenden Personen unterbrochen worden war.

Schlechte Äpfel

Besonderes in radikalen Communities werden sich die Apologet:innen nicht immer hinter eine:n Täter:in stellen. In bestimmten Fällen wäre der Widerspruch dazu so eklatant, dass nicht einmal ihr eigenes Selbstbild als „Anarchist:innen“ dies überleben würde. Wieder einmal kommt die demokratische Ideologie zu Hilfe. So wie die Apologet:innen der Polizeibrutalität darauf beharren, dass es sich nur um „ein paar schlechte Äpfel“ handelt, um jede strukturelle Analyse der Polizei oder ihrer Rolle in der Gesellschaft zu vermeiden, so versuchen die Vergewaltigungsapolget:innen, den:die einzelne:n Täter:in zum Sündenbock zu machen und ihn:sie auf dem Altar der Rape Culture zu opfern. Sie verweisen vielleicht auf ihre eigene Abscheu gegenüber einem:r Täter:in oder prahlen damit, dass sie nicht mehr mit ihm:ihr reden, als ob diese Dinge ein Beweis dafür wären, wie „unterstützend“ sie sind. Natürlich ist die Missbilligung der Handlungen eines:r Täter:in nicht automatisch gleichbedeutend mit der Unterstützung einer gewaltüberlebenden Person. In einigen Fällen widerspricht die Verunglimpfung des:der Täters:in den Wünschen der gewaltüberlebenden Person, während in anderen Fällen der:die Täter:in und der:die Gewaltüberlebende:r gleichzeitig geächtet werden können.[9] Die bloße Ausschließung von Täter:innen als einzige Reaktion wurde bereits an anderer Stelle heftig kritisiert, aber wir möchten betonen, dass ein solcher Ansatz dazu dient, die Rape Culture zu schützen, indem er die direkte Konfrontation mit ihr vermeidet. Auf diese Weise können die Apologet:innen die negativen Aspekte der Rape Culture als etwas von ihnen Unabhängiges ausgeben. Indem sie alles auf eine:n Einzeltäter:in (oder vielleicht alle Täter:innen) projizieren, können die Apologet:innen jede Analyse der sozialen Beziehungen, die Täter:innen hervorbringen, ablenken, insbesondere ihre eigene Rolle. Indem sie ein paar schlechte Äpfel herausgreifen, lenken sie von der Tatsache ab, dass der ganze Haufen verderbt ist.

Damit wird natürlich auch die gesamte Frage der Unterstützung des:der Gewaltüberlebenden umgangen, und es wird eine Lösung angestrebt (z. B. die Beseitigung des:der Täter:in), die den Bedürfnissen des:der Gewaltüberlebenden nicht gerecht wird. Dies zeigt die wahre Priorität der Rape Cutlure, denn wenn mensch einige wenige Täter:innen zum Sündenbock macht, bleiben die unterdrückerischen sozialen Strukturen intakt, während Gewaltüberlebende, die sich erfolgreich gegen diese Strukturen wehren können, dessen Grundlagen bedrohen. Die Rape Culture schätzt den:die Täter:in ungefähr so sehr, wie eine imperialistische Armee ihre Fußsoldat:innen schätzt. Sie opfert sie gerne, wenn es nötig ist, denn natürlich ist es die Unterwerfung der gewaltüberlebenden Personen, ihr ständiger Opferstatus, der um jeden Preis aufrechterhalten werden muss. Genau wie das Imperium kann sich die Rape Culture nur durch diese Unterwerfung reproduzieren.

Krieg gegen die Kultur führen

Die Funktionsweise und Reproduktion der Rape Culture ist zu komplex, um vollständig erklärt oder dokumentiert werden zu können. Die groben Verallgemeinerungen und Karikaturen, die wir hier dargelegt haben, sind zu einfach, um die Dynamik, die wir in unserem täglichen Leben erleben, getreu wiederzugeben. Wir haben zwar versucht, um der Klarheit willen zu kategorisieren und zu definieren, unterdrückerischen Strukturen eine Form zu geben, in der Hoffnung, sie erkennbar zu machen, aber in Wirklichkeit schwanken die meisten Menschen zwischen den Rollen. Sogar diejenigen, die manchmal aus dem sozialen Rahmen heraustreten, um echte Unterstützung zu leisten, können in anderen Fällen als die brutalsten Schocktruppen der Rape Culture dienen. Sogar die Gewaltüberlebenden selbst können einander gegenüber eine repressive Rolle einnehmen, verführt von der Aussicht, in der sozialen Hierarchie eine Stufe höher zu stehen, anstatt sich mit Gleich zu solidarisieren. Die Rollen der Menschen sind nicht statisch, und die Repressionssysteme sind nicht erstarrt. Das Zusammenspiel zwischen den zum Schweigen bringenden, unterdrückenden, entschärfenden und vereinnahmenden Kräften der Rape Culture ist nicht konspirativ. Diese manchmal getrennten, aber immer zusammenarbeitenden Elemente treffen sich nicht, um Strategien zu entwickeln oder die Aufgaben aufzuteilen. Aber natürlich ist die Zusammenarbeit nicht so sehr von tatsächlichen Verbindungen abhängig, sondern vielmehr von einem gemeinsamen Interesse. Diejenigen, die gemeinsame Interessen haben, werden zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen oder auf ähnliche Ziele hinarbeiten, ohne jemals miteinander in Kontakt treten zu müssen. Dadurch wird deutlich, dass es sich bei der Rape Culture nicht nur um ein vages Konzept handelt, sondern um die konkreten materiellen Bedingungen, die dazu führen, dass Menschen—bewusst oder unbewusst—zu dem Schluss kommen, dass ihr Interesse darin besteht, eine gewaltüberlebende Person zum Schweigen zu bringen, sich an ihrer fortgesetzten Unterdrückung mitschuldig zu machen oder den Kampf einer gewaltüberlebenden Person aktiv zu bekämpfen.

Die Klage darüber, dass die Menschen „den einfachst weg gehen,“ bringt dieses Problem teilweise zum Ausdruck, schreibt es aber auch nur Momenten moralischer Schwäche von Einzelpersonen zu. Damit wird die offensichtlichere Frage umgangen: Warum sind unsere radikalen Communities immer noch so strukturiert, dass die Unterstützung einer gewaltüberlebenden Person nicht „der einfachere Weg“ ist? Was macht es schwierig? Eine materialistischere Sichtweise unserer Reaktionen auf zwischenmenschliche Gewalt, die nicht auf die politische Einstellung oder das Anstandsgefühl einer Person hinzielt, sondern auf die materiellen Bedingungen wie ihre sozialen Abhängigkeiten (z. B. wem stehen sie nahe, mit wem lebt sie zusammen, mit wem organisiert sie sich, wie sehen ihre Unterstützungsnetze aus, wovon ist sie abhängig, und wie würden diese Dinge durch eine echte Unterstützung einer gewaltüberlebenden Person beeinflusst?) könnte einen besseren Einblick in die Art und Weise geben, wie unsere eigenen Interessen durch eine Rape Culture kontrolliert und geformt werden.

Der vielleicht wichtigste mildernde Faktor unter diesen Bedingungen ist Macht. Sowohl die Macht, die eine gewaltüberlebende Person in der Community hat, als auch die entsprechende Macht eines:r Täter:in sind entscheidend für die Reaktion der Community. Wenn ein:e Täter:in im Vergleich zu einer gewaltüberlebenden Person sehr wenig Macht hat oder wenn der:die Täter:in nicht einmal Teil der Community ist, kostet eine symbolische Unterstützung wenig und hilft, den wohlwollenden Anschein der Rape Culture aufrechtzuerhalten. Natürlich ist dies selten der Fall. Es wird häufig darauf hingewiesen, dass die Unterstützung einer gewaltüberlebenden Person nicht durch die Machtposition des:der Täter:in in der Community behindert werden sollte, aber die Machtposition selbst wird kaum untersucht, ebenso wenig wie ein möglicher Zusammenhang zwischen dieser Machtposition und zwischenmenschlicher Gewalt (die selbst ein brutaler Ausdruck von Macht ist). Das Versäumnis, diese Verbindung herzustellen, ist so, als würde man fragen, was zuerst da war, das Huhn oder das Ei, und dann darauf besteht, dass das Huhn und das Ei nichts miteinander zu tun haben. Dieser blinde Fleck ist besonders merkwürdig bei Anarchist:innen, die behaupten, alle Formen hierarchischer Macht abzulehnen.

Daraus folgt, dass eine echte Analyse der Funktionsweise von Rape Culture auch eine Analyse der Machtverhältnisse beinhalten muss, die unser Leben bestimmen. Dies betrifft nicht nur die Hierarchien, ob formell oder nicht, die selbst in anarchistischen Räumen fortbestehen, sondern auch die größeren Machtsysteme, die ihnen zugrunde liegen, wie Patriarchat, weiße Vorherrschaft, Kolonialismus, Behindertenfeindlichkeit und so weiter. Wir müssen den rechtmäßigen Platz der Rape Culture innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft anerkennen. Dadurch können wir die Rape Culture als einen Mechanismus der sozialen Kontrolle erkennen, da sie diese Macht- und Herrschaftssysteme stärkt, die sie wiederum reproduzieren. Dann wird es notwendig, die hierarchischen Unterteilungen zu untergraben, die sowohl dazu dienen, die zwischenmenschliche Gewalt selbst zu erleichtern, als auch die Interessen derjenigen zu formen, die in der Lage sind, auf sie zu reagieren. Viele Anarchist:innen lehnen zu Recht die Nabelschau der Identitätspolitik ab, aber eine scharfe Analyse der Machtsysteme, der Art und Weise, wie diese Systeme einigen von uns Privilegien und anderen Unterdrückung bieten, und der Art und Weise, wie unsere Erfahrungen mit diesen Machtsystemen die Art und Weise beeinflussen, wie wir gegen sie kämpfen, ist entscheidend für echten Widerstand. Um eine Rape Culutre erfolgreich zu bekämpfen, müssen wir die Wurzeln dieser Macht angreifen.

Das Bild der Community

Viele Anti-Gewalt-Aktivist:innen gehen von der prekären Annahme aus, dass es eine Community gibt; dass eine gewaltüberlebende Person eine soziale Basis hat, an die sie sich wenden kann, um Unterstützung zu erhalten, oder ein Unterstützungsnetzwerk, das sich dem Einfluss der Macht entzieht, die wir gerade diskutiert haben. Hier wird Community eher nebulös oder gar nicht definiert. Ist deine Community ein geografischer Raum, z. B. die Nachbarschaft, in der du lebst? Ist es eine gemeinsame Identität oder Erfahrung, z. B. queer oder Schwarz zu sein? Sind es die Menschen, mit denen du deine Zeit verbringst, z. B. deine Familie, Kolleg:innen oder Freund:innen? Eine Community kann eine Kombination aus all diesen Dingen sein, aber keines dieser Dinge deutet auf eine inhärente Position der Unterstützung hin.

Was oft als „anarchistische Community“ bezeichnet wird, lässt sich vielleicht besser als eine Jugendsubkultur beschreiben.[10] Aufgrund ihres flüchtigen und zeitlich begrenzten Charakters ist sie für das langfristige Projekt der Heilung von Traumata schlecht gerüstet. Darüber hinaus stellen sowohl die Abhängigkeit als auch die Verstärkung der Rape Culture durch andere Machtsysteme eine besondere Herausforderung für die überwiegend weißen, aus der Mittelschicht stammenden und oft männlich dominierten anarchistischen Communities Nordamerikas und Europas[11] dar. Es ist nicht ungewöhnlich, dass solche Communities durch ihre eigene privilegierte Position so kompromittiert sind, dass sie verschiedenen Machtsystemen viel zu sehr unterworfen sind, um einen sinnvollen Angriff gegen sie zu riskieren. In solchen Fällen entpuppt sich die anarchistische „Communities“ nicht als radikaler Raum, von dem aus angegriffen werden kann, sondern als reaktionäres Organ, das diese Angriffe unterdrücken soll. Sie ist „anarchistisch“ und eine „Gemeinschaft“ nur in der Vorstellung.

Viele Anarchist:innen erkennen nicht einmal die Bedeutung und die Zusammenhänge zwischen dem Aufbau von Community und dem Angriff auf Unterdrückungssysteme, und diejenigen von uns, die dies tun, nutzen diese Erkenntnis selten jenseits unserer Rhetorik. Und, um es nochmal etwas komprimierter zu sagen, wir machen oft den Fehler, anzunehmen, dass die Ziele unseres „Angriffs“ nur außerhalb unserer selbst liegen. Angriff wird hier nicht als ein fast militaristischer Ansatz verstanden, der sich ausschließlich auf die Zerstörung von Eigentum und physische Kämpfe stützt, eine Position, die von vielen Anarchist:innen vertreten wird. Vielmehr ist der Angriff der Prozess, durch den wir die Kräfte, die uns unterdrücken, erkennen und versuchen, sie zu zerstören. Die Frage der Gewalt, die Frage, was nötig ist, um Machtsysteme zu zerstören, liegt weitgehend nicht in unserer Hand. Der Kapitalismus mit seinen stehenden Armeen und Myriaden von Gefängnissen hat seine eigene Position in dieser Frage vollkommen klar gemacht. Diejenigen Genoss:innen unter uns, die unweigerlich das Gepäck der weißen Vorherrschaft, des Patriarchats und des Kolonialismus mit sich herumtragen, diejenigen, die sich in der Position der Apologet:innen wiederfinden, können hoffentlich bessere Entscheidungen treffen. Sie können sich dafür entscheiden, sich uns anzuschließen. Sie können sich, wie wir, dafür entscheiden, die Aspekte ihrer selbst anzugreifen, die die alte Welt wiederherstellen, und den Angriff gegen diejenigen zu unterstützen, die sich anders entscheiden. Es sollte diese Wahl sein, die uns Anarchist:innen definiert, die uns von unseren Feinden unterscheidet und uns zu unseren Genoss:innen führt. Durch diese Wahl wird jeder echte Kampf möglich.


Footnotes

[1]

Anm. d. Ü.: Im Originaltext steht Survivor (Überlebende). Im Deutschen hat dieser Begriff eine besondere Assoziation mit Überlebenden der Shoah. Auch der Begriff „Opfer“ vermittelt nicht dasselbe Gefühl wie „Überlebende.“ Wir haben uns für den abgewandelten Begriff „Gewaltüberlebende“ entschieden, wie im weiteren Verlauf des Textes deutlich wird.

[2]

Anm. d. Ü: Im Originaltext steht Recuperation (wörtlich Erholung, Rekuperation) statt entschärft und vereinnahmt. Wir kennen gar keine Begriffe mit dem gleichen Gefühl und Bedeutung. Recuperation heißt: der Prozess, durch den politisch radikale Ideen verdreht, vereinnahmt, absorbiert oder entschärft werden. Es wird oft im Zusammenhang mit Aufstandsbekämpfung verwendet.

[3]

Zumindest für die meisten Anarchist:innen ist die Polizei ein gesichtsloser Feind. Wir müssen nicht sehen, wie sie ihre Kinder abends ins Bett bringen, sie erzählen uns keine Witze beim Bier, sie konfrontieren uns nicht mit dem Widerspruch ihrer eigenen Menschlichkeit. Dies gilt nicht für diejenigen, die in anarchistischen Kreisen wegen Übergriffen oder Misshandlungen angezeigt werden, eine Realität, die viele Täter:innen zu ihrem Vorteil nutzen.

[4]

Dieser Prozess wird häufig auch auf das Unterstützungsnetz der gewaltüberlebenden Person ausgedehnt. Wenn mensch sich hauptsächlich auf die Unterstützer:innen konzentriert, können die Unterdrücker:innen manchmal weiterhin so tun, als würden sie die Gewaltüberlebenden unterstützen, während sie gleichzeitig jede echte Unterstützung sabotieren. Derartige verschleierte Angriffe sind zwar für die Unterstützer:innen möglicherweise verheerend, müssen aber dennoch in erster Linie als Angriffe auf die Gewaltüberlebenden verstanden werden, auch wenn sie indirekt erfolgen. Im schlimmsten Fall führen solche Angriffe zu einem degenerierten Konflikt zwischen den Kompliz:innen der Rape Culture und einem Unterstützungsnetzwerk, wodurch die gewaltüberlebende Person erneut ins Abseits gedrängt und entmachtet wird.

[5]

In einigen Fällen werden auch Forderungen an die breitere Community gestellt, oft mit dem gleichen Ergebnis.

[6]

Das soll nicht heißen, dass Fragen der intimen Gewalt keine Angelegenheiten der Community sind, sondern dass eine echte Community versuchen, ihre Gewaltüberlebenden zu stärken und ihre Autonomie zu fördern. Aspekte einer Community, die ihre eigenen Interessen mit denen gewaltüberlebenden Person in Konflikt bringen, erweisen sich nicht als Teil einer anarchistischen Community, sondern als feindliche Garnison in unserer Mitte.

[7]

Wenn der Prozess erst einmal gekapert ist, ist es natürlich kein Prozess mehr, der zur Rechenschaft führt. Und egal, welche Worte die falschen Unterstützer:innen verwenden, um es zu beschreiben, ob es sich um eine Mediation, eine Konfliktlösung oder einen Heilungskreis handelt, das Ergebnis wird nicht Rechenschaft sein.

[8]

Die repressiven Kräfte hingegen sind nicht so versöhnlich und nutzen stattdessen die defensiven Anschuldigungen nur, um die gewaltüberlebenden Personen anzugreifen. Vielleicht erklärt dies, warum sich so viele Gewaltüberlebenden auf die Scharade der falschen Unterstützer:innen einlassen, wenn auch nur, weil sie im Vergleich dazu nicht so schlimm erscheinen.

[9]

Dennoch wünschen sich Gewaltüberlebenden manchmal, dass ihre Täter:innen geächtet werden. Dies ist eine berechtigte und verständliche Reaktion und sollte respektiert werden. Die Analyse von Machtsystemen und die Ablehnung von Täter:innen schließen sich nicht gegenseitig aus.

[10]

Das heißt, wenn wir bereit sind, sie so zu beschreiben, wie sie tatsächlich existiert, anstatt sie nach unseren Phantasien zu definieren.

[11]

Anm. d. Ü.: Im Originaltext steht Europa nicht. Wegen unsere Erfahrungen haben wir es hinzugefügt.